Im Oktober 2018 schrieb mir Klaus Willem Sitzmann in einem längeren Brief: „Wenn man eines Tages in eine neue Aufgabe „schlittert“ und zunächst nicht ahnt, dass es eine ist, irgendwie getrieben, ja sogar „unaufhaltsam beseelt“ weitermacht, immer weitermacht, ohne bestellt worden zu sein (!), dann bekommt das Ganze eine sehr persönliche Qualität“.
Der Zeitbezug meint ein konkretes Datum: Am 19. August 2002 kam er nach Dresden. Von Fulda „der Barockstadt“, wie er immer wieder betont. Er hat recht damit, denn sie ist wirklich eine. Es waren die Tage der großen Flut, der Verwüstung und Heimsuchung, aber auch eine Zeit der Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit.
Es gibt Augenblicke und Begegnungen, die dem Leben neue Richtungen und Zielpunkte geben, unmerklich vielleicht zuerst, dann aber mit einem Zwang, dem man sich nicht entziehen kann. Eigentlich wollte er nur ein paar Stunden bleiben, Dokumentator der Flut, einer von vielen, aber dann blieb er lange, bezog als gleichsam Wacht- und Aussichtspunkt Quartier beim Blauen Wunder und fotografierte, endlose Motivsequenzen, die wie im Kaleidoskop immer neue Gestalten annehmen.
Wir sind uns in dieser Zeit nur flüchtig begegnet, häufiger im Sommer 2003, als er den ersten „Brückenschlag“ an den Eckquartieren des Blauen Wunders initiierte und mit organisierte.
Das Fest sollte einen symbolischen Bezug haben. Frieden für die Menschen am Fluß, nach
höchster Unruhe und Zerstörung durch die Wassermassen in den Augusttagen 2002. Es sollte aber auch und das war Sitzmanns Hauptanliegen, die große Freude zum Ausdruck bringen, dass ein Jahr nach der sogenannten Jahrhundertflut alles wieder intakt war - rund ums Blaue Wunder - links und rechtselbisch.
Bis Ende 2005 stand die Baustelle der Frauenkirche im Focus, dazu die archäologischen Grabungen im Umfeld des Neumarktes. Und natürlich immer wieder das Blaue Wunder.
Ein Prosaband von Botho Strauß (2004) trägt den etwas rätselhaften Titel „Der Unten-stehende auf Zehenspitzen“. Im Blick auf den Motivsucher Sitzmann lässt er sich weiter variieren: „Der Obenliegende, bäuchlings, halsbrecherisch“ oder „Der Eingezwängte zwischen Stahlträgern“. Man fragt sich, wie er überhaupt auf diese schwebenden Orte gelangt ist oder typisch sächsisch: Durfte er das denn?
Das Konvolut, die Summe von 18 Jahren, ist quantifizierbar, aber nicht eigentlich zu fassen: 350.000 Fotografien, „gegen das Vergessen“ fügt der Autor hinzu. 90.000 Aufnahmen analog mit der entsprechenden Zahl von Negativen und ebenso vielen Papierabzügen im Format 9 x 13. Diese Negative dann noch einmal im neuesten technischen Verfahren digitalisiert. Seit 2008 entstanden dann die Aufnahmen ausschließlich digital, erst mit der Nikon D 90, dann mit der D 7200. So gerät die Fotoproduktion nach und nach ins schier Unbegreifliche. Man fragt sich, wie man über die Bildmotive, ihre Verwandtschaft und Abwandlungen den Überblick behalten kann oder anders: Mit welcher Systematik ist dieser Fülle beizukommen?
Die Fotos besagen nur die Hälfte, wirklich sprechend werden sie, wenn Klaus Willem Sitzmann über sie erzählt. Da wird alles wieder gegenwärtig, der Ort, der Augenblick, die Kontexte der Stadtgeschichte und die Veränderungen der Gegenstände. Im November 2018 saßen wir in einem Café
an der Schloßstraße und verloren uns in den Bilderwelten. Ja, so war es und das habe ich noch nicht gesehen: Der Kaffee wurde kalt! Und dann musste er schnell weg, weil er die 28 Platanen des Grünen Gewandthauses am Neumarkt ablichten wollte.
Um das zu machen über zwei Jahrzehnte, Zeit und Geld darauf zu verwenden, bedarf es der Passion. Das Wort ist doppelbödig. Es schließt Unbedingtheit, Leidenschaft, ja Liebe ein, aber, ich kann es mir nicht anders vorstellen, manchmal leidet man auch daran, dass es so ist und man nicht anders kann. Aber am Ende fordert die selbstgestellte Aufgabe das Ihre wieder ein: das Werk und sein Fortgang!
Zugegeben, mit dem Titel „EXPO Dresden“ habe ich mich schwer getan – besetzt durch den Namen einer Industriemesse. Aber Sitzmann wollte von dem Titel nicht lassen. Am Ende hat er nicht unrecht. Das Wort lässt sich auf zwei Bedeutungen hin erweitern, auf „Export“ und auf „Exposition“, was in den romanischen Sprachen „Ausstellung“ bedeutet. Beides kann dieses Konvolut von Fotografien für sich beanspruchen: eine Bildergalerie von unglaublichen Ausmaßes zu sein: und eine Botschaft Dresdens in die Welt!
Sitzmanns Zugang zum Motiv ist entschieden subjektiv, Er nennt es eine „emotionale Allianz“, die zwischen der Botschaft eines Gegenstandes und der darauf gerichteten Aufmerksamkeit des Betrachters entsteht. Und emotional, expressiv ist die Haltung der Bilder auch da, wo sie zunächst oberflächlich dokumentarischen Anspruch erheben. Immer wieder steigert der Bildgestalter die Expressivität in Verfremdung. Der Betrachter ist verwirrt über Ferne und Entrückung eines vertrauten Motivs, tastet sich heran, fragt nach, versucht einzuordnen. Am Ende steht der Gewinn einer neuen Ästhetik im wörtlichen und ursprünglichen Sinne des Wortes: Wahrnehmung überhaupt.
Die Aufzählung der Bücher, Ausstellungen und Beiträge von Klaus Willem Sitzmann ist lang. Man kann sie unter https: //www.sitzmann-photo.de nachlesen. Von den Publikationen sind unbedingt zu erwähnen: „Die Dresdner Frauenkirche: dem Himmel näher“ (2004) und „Am Blauen Wunder“ (2008). Mir besonders vertraut sind die Impressionen aus der Sächsischen Schweiz „Auf dem Malerweg“ (2009). Bei meinen Wanderungen dort habe ich zwar den Band nicht mit mir geführt, aber versucht, die Motive wiederzufinden und zu „ergehen“.
All das ist, nicht nebenbei bemerkt, nicht nur eine künstlerisch-handwerkliche Leistung, sondern auch Ausweis eines besonderen organisatorischen und kommunikativen Talents.
Welchen Projekten wird er sich künftig zuwenden?
Bei unserem letzten Treffen hat er mir zwei Abzüge geschenkt, von denen er mir sagte, dass sie ihm besonders wichtig seien.
Das eine Foto zeigt, kopfüber, in malachitgrünes Licht getaucht, im Zentrum durch Sonnenstrahlen aufgehellt, die Kuppel der Frauenkirche, die sich mit Kran- und Gerüstelementen in einer Wasserlache spiegelt.
Das zweite verfremdet die Installation „Monument“ des deutsch-syrischen Künstlers Magnaf Halbouni, drei aufrecht gestellte Busse, die an das zerstörte Aleppo erinnern sollte. Sie war im Frühjahr 2017 temporär auf dem Neumarkt aufgestellt. Das Foto stellt die Frauenkirche zweimal daneben: düster in der Seitenansicht und separat die Glocke in fahlem gelb-weiß. Eine kleine Gruppe von Zuschauern im Vordergrund: aufmerksam, gebannt, verloren.
Ich werde die Fotos sorgsam aufbewahren: wieder einmal Erinnerungen.
Dr. Werner Barlmeyer
Direktor der Museen der Stadt Dresden a.D.
Direktor des Stadtmuseums Dresden a.D.